Gegenwärtig-Sein
© Bernd Helge Fritsch
Präsenz
Präsenz erfordert „Nicht-Denken“. Gedanken behindern die Verbindung mit dem allumfassenden
„Sein“. Nicht-Denken ist eine hohe Kunst – die Königin aller Künste. Wer sie beherrscht,
für den öffnet sich das Tor zum befreiten, bewussten Sein, zu anhaltender Freude
und Seligkeit.
Nicht-Denken erfordert kein aktives Tun, sondern ein Unterlassen. Nur ein Loslassen
ist erforderlich – Wovon? Loslassen vom unkontrollierten Gedan-kenstrom und den von
ihm verursachten Sorgen, Wünschen und Problemen. Dazu müssen allerdings uralte Verhaltens-Muster
aufgegeben werden. Das wiederum erfordert ein hohes Maß an Achtsamkeit.
„Nicht-Denken“, „präsent sein“, in der „reinen Wahrnehmung“ verweilen und der neutrale,
in sich ruhende „Beobachter sein“, diese Begriffe um-schreiben im Wesentlichen denselben
Bewusstseins-Zustand. All diese Worte deuten hin auf unser wahres, jenseits aller
Worte erfahrbares Sein.
Der Mensch ist ein Wesen, das – wie alle Erscheinungen im Universum – aus der Kraft
des universellen Bewusstseins entstanden ist. Doch der Mensch unterscheidet sich
von allen anderen Geschöpfen dadurch, dass er nicht nur zu 100% aus göttlichem „Sein“
besteht, sondern dass er sich dieses Seins und damit seiner unbegrenzten Göttlichkeit,
bewusst sein kann.
Nicht-Identifikation
Wir Menschen sind dazu auserkoren, im Verlauf unseres Erdendaseins höchstes Bewusstsein
(Gott-Sein) zu verwirklichen. Es ist dazu notwendig unsere irrtümliche Identifikation
mit der Welt der Formen, mit der Welt der vergänglichen Erscheinungen – wozu insbesondere
unser Körper, unser Denken, Fühlen und Wollen, unsere Vergangenheit und unsere Besitztümer
zählen – zu beenden. Dies führt zu einer Transformation unseres Ego-Bewusstseins.
Letztlich entschleiern wir auf diese Weise unsere wahre We-senheit, welche identisch
ist mit dem allumfassenden Sein.
Unsere verhängnisvollen Identifikationen entstehen durch den unkontrollier-ten Strom
von Gedanken, von dem der „normale“ Mensch durch sein Leben getrieben wird. Diese
Gedanken verhindern das Aufleuchten des bewussten Seins in uns. Durch unsere Identifikationen
begrenzen wir unser unendlich weites, wunderbares und unfassbar schönes, unsterbliches
Sein. Diese Beschränkung verursacht Karma und Leid. Denn alles Karma entsteht nur
durch mangelnde Präsenz, durch unbewusstes Denken und Handeln. Doch die gute Nachricht
lautet: Umgekehrt, löst sich jegliches Karma wie Morgen-Nebel in der Sonne auf, sobald
wir anhaltend präsent sind.
Mühe oder Mühelosigkeit?
Um sich aus der Sklaverei der Gedanken zu befreien, ist, wie gesagt, kein aktives
Tun, erforderlich. Wohl aber wird nur beharrliches Bemühen um Präsenz und Achtsamkeit
zum Erfolg führen. In diesem Sinne spricht Ramana Maharshi:
„Ohne Bemühung kein Erfolg. Geisteskontrolle ist nicht einfach unser Geburtsrecht.
Die wenigen Siegreichen verdanken ihren Erfolg ihrer Be-harrlichkeit.“
Ramana erklärt, dass es einen Bewusstseins-Zustand jenseits von Mühe und Mühelosigkeit
gibt. Bis man diesen erreicht hat, müsse man sich bemühen. Und er fügt hinzu:
„Doch wenn man einmal diese Glückseligkeit gekostet hat, so wird man immer wieder
versuchen sie zu gewinnen. Niemand, der einmal die Se-ligkeit des großen Friedens
erfahren hat, möchte ohne sie sein.“
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ein angestrengtes „Nicht-Denken-WOLLEN“
ebenso ein Hindernis für unser befreites Sein bildet, wie die Vernachlässigung von
spirituellem Studium, Achtsamkeit und Meditation. Jedes „Etwas-Erreichen-Wollen“
führt uns weg von der Vollkommenheit des gegenwärtigen Seins. Doch sich gehen lassen
und primär auf weltliche Angelegenheiten ausgerichtet sein, wird nicht zur angesprochenen
seligen Seins-Bewusstheit führen.
Wie können wir uns befreien?
Was also sollte geschehen, um uns von zwanghaften Gedanken zu befreien?
Befreiung geschieht nur im „Jetzt“ – durch deine Gegenwärtigkeit. Beobachte dein
Innenleben:
Vermeide Personen und Geschehnisse rund um dich (laut oder leise) ge-danklich zu
kommentieren – zum Beispiel: als „gut“ oder „schlecht“, „erfreu-lich“ oder „unerfreulich“,
„mag ich“ oder „mag ich nicht“, als „schrecklich“ oder „ärgerlich“.
Beschäftige dich weder mit deiner Vergangenheit noch mit deiner Zukunft. Vergiss
deine Geschichten, deine ehemaligen Freuden und Leiden! Lass ab von deinen Wünschen,
Erwartungen, Hoffnungen, Sorgen und Ängsten – die sich immer auf die Zukunft beziehen!
Soweit unser Bewusstsein mit Bewertungen, mit unserer Vergangenheit und mit Gedanken
an die Zukunft ausgefüllt ist, können wir das befreiende und beglückende „Sein“ nicht
wahrhaben.
Meister Eckehart hat dieses spirituelle Gesetz so ausgedrückt:
Leer sein aller Kreaturen ist Gottes voll sein,
und voll sein aller Kreaturen ist
Gottes leer sein.
Im Zustand der Präsenz, der Hingabe an den Augenblick, im Zustand der gedanklichen
Stille, bist du dir ganz von selbst deines eigentlichen „Seins“ bewusst. Denn DU
BIST ES, das unbeschreibbare, grenzenlose Sein. Du kannst es nicht erdenken, sondern
nur fühlen, nur sein.
Selbstbeobachtung
Gegenwärtigkeit wird erreicht, wenn du stets darauf achtest, was in dir, in deinem
Bewusstsein vor sich geht. Sind es Sinneswahrnehmungen? Sind es Gedanken oder Gefühle?
Nimm wahr was sich in dir ereignet und vermeide auf deine Wahrnehmungen mit deinen
gewohnten Verhaltens-Mustern (z.B. mit Ablehnung, Widerstand oder Wünschen und Begehren)
zu reagieren. Verbleib in der Rolle des neutralen, unbeteiligten und dennoch liebevollen
Beobachters von dem, was sich in dir und um dich ereignet.
Durch diese Art die Welt und sich selbst zu beobachten, erreichst du auto-matisch
eine höhere Bewusstseins-Dimension. Du gewinnst Abstand von allen Ereignissen in
deinem Umfeld und ebenso von dir selbst - deinem Ego. Die Identifikation mit deinem
Körper, deinen Gedanken und Gefühlen löst sich nach und nach auf und dein „wahres
Ich“ – die alten indischen Weisen bezeichneten es als „Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit“
(Sanskrit: sat, chit, ananda) – verwirklicht sich.
Nicht-Denken
Im „Normalzustand“ ist unser Bewusstsein bis „zum Rand“ angefüllt mit Gedanken. Wobei
sich der Mensch in der Regel seines pausenlosen Denkens gar nicht bewusst ist. Erst
wenn wir versuchen „Nichts“ zu denken oder uns von zwanghaften, sorgenvollen Gedanken
zu lösen, bemerken wir wie Ge-danken ungefragt erscheinen und wie schwer es ist,
sie in den Griff zu be-kommen.
Wie jeder, der von beunruhigenden Gedanken geplagt wird, feststellen kann ist Denken
zu „müssen“ eine Qual. Alle Probleme des Menschen entstehen durch unbeobachtetes
Denken. Fast alle Menschen leiden – mehr oder min-der intensiv – unter dieser Krankheit.
Kaum jemand vermag mit wachen Sinnen in das beglückende, göttliche „Nicht-Denken“
einzutauchen. „Selig“ sind diejenigen, die fähig sind, das in der Regel unnötige
Denken zu unter-lassen. In diesem Sinne sind die Worte Jesu zu verstehen:
„Selig sind die Armen im Geiste,
denn ihrer ist das Himmelreich.“
Mat.5,3
Fortsetzung folgt